Winterregen von Robin (alter Titel: Weirdos)

 

Kapitel 18 - Schrecksekunden

Eigentlich hatten wir Thomas noch zum Abendessen zurück in der Klinik erwartet. Der letzte Bus kam sonntags kurz vor Sechs am Ortsplatz an. Er musste sich also nicht einmal besonders beeilen, wenn er sich noch über das Büffet hermachen wollte. Doch Thomas tauchte nicht auf. Zuerst dachten wir, dass er sich für den Weg von der Bushaltestelle zur Klinik eben doch mehr Zeit gelassen hatte als üblich oder dass der Bus vielleicht Verspätung gehabt hatte. Als dann das Personal aber damit begann, die Schüsseln und Tabletts abzuräumen, von Thomas dagegen immer noch weit und breit nichts zu sehen war, wurden wir doch etwas unruhig. Freiwillig ließ sich Thomas sonst nämlich keine Mahlzeit entgehen.

»Seht doch mal auf seinem Zimmer nach. Vielleicht ist er ja schon da und hatte nur keinen Hunger«, schlug Gudrun vor.

»Oder er ist auf dem Dach und raucht eine«, fügte Nadine hinzu.

»Na gut, ich geh mal nachsehen«, bot ich mich an.

Kevin erhob sich ebenfalls von seinem Stuhl.

»Warte, ich komm mit.«

»Wir schmieren ihm noch schnell ein paar Brote, solange es noch was zu Essen gibt. Nicht dass er uns noch verhungert.«

Gudrun war also noch zu Scherzen aufgelegt. So besonders Ernst nahm Thomas' Fehlen zu diesem Zeitpunkt wohl noch keiner von uns. Als Kevin und ich dann oben vor seinem Zimmer standen, pochte mein Herz trotzdem ein wenig. War Thomas wirklich noch nicht hier? Es war doch schon kurz nach Sieben. Selbst wenn der Bus Verspätung gehabt hatte und Thomas ganz gemächlich zurück zur Klinik geschlendert war, hätte er inzwischen längst hier sein müssen. Ich klopfte an, zuerst leise, dann lauter. Nichts rührte sich. Kevin drückte die Klinke hinunter, doch die Türe ließ sich nicht öffnen.

»Abgeschlossen«, stellte er fest.

»Sehen wir auf dem Dach nach«, schlug ich vor, obwohl ich irgendwie schon wusste, dass wir Thomas auch dort nicht finden würden.

Mein ungutes Gefühl bestätigte sich. Uns blieb nichts anderes übrig, als wieder zu den Mädchen in den Speisesaal zurückzukehren. Die sahen es wohl schon an unseren Gesichtern, dass wir keinen Erfolg gehabt hatten.

»Vielleicht hat er ja den Bus verpasst, oder den Anschlusszug«, meinte Gudrun, nachdem wir wieder Platz genommen hatten.

»Dann sieht's übel für ihn aus, weil später kein Bus mehr fährt«, erwiderte ich. »Aber eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Er hatte überall genügend Aufenthalt.«

Wir sahen uns ratlos an. Was konnte nur passiert sein?

»Und? Was machen wir jetzt?« wollte Kevin schließlich wissen.

»Also, mal angenommen, dass Thomas unterwegs tatsächlich irgendwo festsitzt. Vielleicht versucht er ja dann, uns zu erreichen. Ich meine, schließlich kennt er ja die Durchwahl von unserem Zimmer.«

»Dann solltet ihr beide besser nach oben gehen und auf seinen Anruf warten«, schlug Gudrun Kevin und mir vor. »Und wir drei sehen uns noch mal in der Klinik nach ihm um.«

Wir eilten sofort los. Kevin rannte die Treppe nach oben, als würde er bereits von unten das Telefon in unserem Zimmer klingeln hören. Ich konnte ihm mal wieder kaum folgen. Der Apparat jedoch tat keinen Mucks, als wir oben ankamen. So blieb uns nichts anderes übrig, als untätig herumzusitzen. Wir begannen, die wildesten Spekulationen darüber anzustellen, warum Thomas immer noch nicht zurück war. War er in den falschen Zug gestiegen? Oder war er in Langenbergen vielleicht sogar seinem Vater in die Hände gelaufen?

»Vielleicht ist er ja überhaupt nicht losgefahren?« mutmaßte Kevin schließlich.

»Du meinst, er ist noch bei Stefan?«

»Ja, könnte doch sein, oder?«

»Ach komm, dann hätte sich doch wenigstens Stefan bei uns gemeldet, damit wir Bescheid wissen und uns keine Sorgen machen.«

»Stimmt. Stefan ist viel zu verantwortungsvoll. Der hätte auch nie zugelassen, dass Thomas nicht zurückfährt.«

Wieder kehrte ratloses Schweigen ein. Während ich direkt neben dem Telefon sitzen blieb und darauf wartete, dass es endlich klingelte, lief Kevin unruhig im Zimmer auf und ab.

»Los, wir rufen jetzt einfach bei Stefan an«, sagte er plötzlich entschlossen. »Vielleicht weiß der ja, was los ist.«

»Stimmt, das hätten wir eigentlich schon längst machen sollen.«

»Hast du die Nummer noch?«

»Ja.«

»Dann ruf an! Diese Warterei macht mich sonst noch wahnsinnig.«

Ich kramte die Nummer der Cityklinik Langenbergen hervor und fürchtete schon, dass Stefan überhaupt nicht in seinem Zimmer im Personalwohnheim war. Die Frau in der Telefonzentrale stellte mich dann aber zum Glück schnell zum Telefon auf seiner Etage durch. Es klingelte fünf oder sechs Mal, dann wurde der Hörer abgenommen.

»Stefan Kunze«, meldete sich eine Stimme.

»Hallo Stefan. Hier ist David Kranitz. Du weißt schon, der aus der Klinik in Bad Neuheim.«

»Ist was mit Thomas?« war das nächste, was Stefan sagte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er über meinen Anruf richtig beunruhigt war.

»Er ist noch nicht zurück in der Klinik«, antwortete ich vorsichtig.

»Oh Mann, Scheiße«, hörte ich Stefan ausrufen.

Dann trat für einen Moment Stille ein. Nur ein leises Rascheln und Stefans aufgeregtes Atmen waren zu hören. Ich überlegte fieberhaft, was ich sagen sollte, doch dann sprach er weiter. Ich glaubte, so etwas wie Verzweiflung aus seiner Stimme herauszuhören.

»Ich hab ihn doch noch extra zum Zug gebracht und gewartet, bis er abgefahren ist.«

Das hörte sich fast so an, als ob er erwartet hatte, dass etwas passieren würde.

»Ist zwischen euch irgendwas vorgefallen?« wollte ich wissen.

»Ach, er wollte, dass ich mit ihm abhaue.«

»Hä? Was? Wieso?«

»Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist. Gestern war noch alles in Ordnung. Sogar das Treffen mit meiner Mutter ist ganz gut gelaufen. Aber seit heute Morgen ...«

Er geriet ins Stocken.

»Scheiße Mensch, was hätte ich denn machen sollen?« stieß er verzweifelt aus.

»Hey, dreh jetzt nicht durch«, versuchte ich ihn zu beruhigen. »Erzähl erst mal, was genau passiert ist.«

»Naja, Thomas ist mir den ganzen Tag damit in den Ohren gelegen, dass ich mit ihm abhauen soll. Ich weiß noch nicht mal, wie er da drauf gekommen ist.«

»Abhauen? Wohin denn?«

»Irgendwohin. Möglichst weit weg von seinem Vater halt. So dass der nicht rausfinden kann, wo wir sind. Ich hab ihn gefragt, wie er sich das vorstellt. Ich meine, ich bin schließlich mitten in der Ausbildung. Da kann ich doch jetzt nicht einfach weg. Und Thomas ist noch nicht mal mit der Schule fertig. Ohne Geld und ohne Job, wie soll das denn gehen?«

»Hast du ihm das klar gemacht?«

»Ja sicher. Was weiß ich, wie oft ich ihm gesagt hab, dass ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, von hier wegzugehen. Auch wegen meinen Eltern und so. Ich hab auch gedacht, er hätte das eingesehen. Und jetzt? Oh Mann, wo kann er jetzt nur sein?«

»Beruhig dich erst mal. Er taucht sicher bald wieder auf. Hey, wo soll er denn auch hin? Er hatte ja nicht mal genug Geld für die Fahrkarte zu dir. Wenn Kevin und ich ihm nicht was geliehen hätten ...«

Stefan fiel mir ins Wort.

»Meine Mutter hat ihm gestern 50 Euro zugesteckt.«

Im Geiste sah ich Thomas bereits im Zug nach Berlin oder in eine andere Großstadt sitzen. Ich versuchte, diesen Gedanken schnell wieder zu verdrängen.

»Hey, auch mit 50 Euro kommt er nicht weit. Jetzt wart erst mal ab. Außerdem sind ja noch die meisten seiner Sachen hier.«

Besonders überzeugend fand ich meine Argumente nicht. Gerade das letzte war alles andere als stichhaltig. Was besaß Thomas denn schon großartiges? Bis auf ein paar Klamotten hatte er so gut wie nichts mitgebracht. Da war kein teurer Discman und keine CDs, die er vermissen konnte. Er hatte auch sonst keine Gegenstände hier gelassen, an denen er hing. Stefan schien ebenfalls nicht besonders beeindruckt von meinen Darlegungen zu sein. Trotzdem blieb mir nichts anderes übrig, als ihn jetzt mit der Ungewissheit über Thomas' Verbleib alleine zu lassen.

»Stefan, wir sollten besser Schluss machen, damit das Telefon frei ist. Vielleicht versucht Thomas ja doch noch, bei dir oder hier bei uns anzurufen.«

»Okay. Meldet euch bitte gleich bei mir, wenn ihr was erfahrt.«

»Klar, machen wir.«

Ich gab ihm noch schnell die Rufnummer unseres Zimmers, damit auch er uns jederzeit erreichen konnte. Dann verabschiedete ich mich von ihm.

»Was sollen wir jetzt tun?« wollte Kevin wissen, als ich den Hörer aufgelegt hatte. Er hatte über den Lautsprecher alles mit angehört.

»Keine Ahnung.«

»Vielleicht sollten wir in der Zentrale Bescheid sagen.«

»Und dann? Was sollen die denn machen? Die Polizei einschalten? Eine Vermisstenanzeige aufgeben?«

»Auf jeden Fall wissen die besser, was zu tun ist.«

»Und wenn Thomas doch noch auftaucht und dann Ärger bekommt?«

Kevin zuckte ratlos mit den Schultern. Ich sah hinüber auf meinen Wecker. Es war noch nicht einmal 20 Uhr.

»Warten wir noch bis Neun«, schlug ich vor. »Wenn Thomas sich dann immer noch nicht gemeldet hat, können wir ja jemanden von der Klinik verständigen.«

»Einverstanden.«

Die nervtötende Warterei ging also weiter. Unsere Unruhe wuchs von Minute zu Minute. Ab und zu sah eines der Mädchen vorbei, um sich zu erkundigen, ob es etwas Neues gab. Die Suchaktion der drei war erfolglos geblieben, aber das war ja nicht anders zu erwarten gewesen. Jetzt saßen sie an einer Sitzgruppe in der Cafeteria, direkt vor einem Fenster, durch das sie den Weg im Blick hatten, der zum Kellereingang führte.

Der Gang zur Zentrale blieb uns dann aber doch erspart. Kurz nach halb Neun klopfte es an unserer Zimmertüre, so leise, dass ich es fast überhört hätte. Wenn Kevin nicht sofort aufgesprungen wäre, hätte ich vielleicht überhaupt nicht darauf reagiert. Thomas stand draußen. Er wirkte völlig verstört und eingeschüchtert.

»Hey, Mann, wo warst du die ganze Zeit?« schrie Kevin ihn fast an. Die Anspannung der letzten anderthalb Stunden suchte sich bei ihm wohl ein Ventil.

»Jetzt komm erst mal rein«, forderte ich Thomas auf und versuchte möglichst gelassen zu bleiben.

Mit gesenktem Kopf trottete er an Kevin und mir vorbei und ließ sich in einen der Stühle fallen.

»Seid ihr sauer?« fragte er leise.

»Mann, wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Wir alle! Was glaubst du, wie fertig Stefan ist?«

»Habt ihr dem was gesagt?«

»Ja klar, was denkst du denn? Hätte ja sein können, dass er weiß, wo du abgeblieben bist.«

Thomas seufzte tief und rieb sich niedergeschlagen mit beiden Händen über das Gesicht.

»Jetzt sag uns endlich, wo du so lange gewesen bist!« verlangte Kevin schließlich.

Der hatte inzwischen auf seinem Bett Platz genommen. Ich setzte mich neben ihn auf die Matratze, damit ich Thomas ebenfalls im Blick hatte und nicht die ganze Zeit auf seinen Rücken starren musste. Thomas sah uns mit halb zusammengekniffenen Augen an.

»Mann, ich wollte abhauen«, erwiderte er mit einer Mischung aus Missmut und Trotz. Dann wandte er seinen Blick wieder der Tischplatte zu.

Im Moment schien er an einem Punkt zu sein, an dem ihm alles egal war. Selbst wenn wir ihn jetzt angeschrieen und ihm laut Vorwürfe gemacht hätten, hätte er das wohl still über sich ergehen lassen.

»Ich wusste halt nicht, wohin«, fuhr er leise fort.

»Und? Was hast du dann gemacht?«

»Naja, zuerst wollte ich ja wirklich nur hierher zurückfahren. Aber dann bin ich einfach im Zug sitzen geblieben.«

»Und dann?«

Im Moment schien man ihm jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen zu müssen.

»Irgendwann hat mich der Schaffner rausgeworfen. In irgend so 'nem Kaff.«

Naja, Nahverkehrszüge waren ohnehin nicht das geeignete Verkehrsmittel, wenn man möglichst weit weg wollte. Viel weiter wäre Thomas wahrscheinlich auch dann nicht gekommen, wenn der Schaffner nicht bemerkt hätte, dass er für diese Strecke keine gültige Fahrkarte besaß.

»Was ist dann passiert?«

»Dann wollte ich eigentlich wieder zurück in die andere Richtung. Aber es ist kein Zug mehr gefahren.«

»Und was hast du dann gemacht?«

»Erst mal bin ich 'ne Weile vor dem Bahnhof rumgehockt.«

»Und dann?«

»Dann hab ich versucht, per Anhalter zu fahren ... aber ich wusste ja nicht mal, in welche Richtung ich muss ... dann hat mich irgendwann so 'ne Oma mitgenommen ... die hat gesagt, sie fährt Richtung Bad Neuheim ... aber die ist dann nur bis ins nächste Kaff gefahren ... das war so'n Kuhdorf mit vier Häusern oder so.«

Thomas ließ sich für seinen Bericht viel Zeit. Nach jedem Satz machte er eine längere Pause. Ich war mir sicher, dass er mich damit in den Wahnsinn treiben würde, falls seine Geschichte noch lange dauerte.

»Los, erzähl schon weiter«, drängelte Kevin. Auch seine Nerven schienen blank zu liegen. »Was hast du dann gemacht?«

»Mann, dann bin ich wieder zurück in das Dorf gelaufen, wo der Bahnhof war.«

Ich wusste nicht, ob ich nun laut loslachen oder doch besser weinen sollte. Ich entschloss mich, einfach nur tief durchzuatmen und leise bis zehn zu zählen. Thomas schien seine Aktion immerhin ziemlich peinlich zu sein. Er wusste wohl, dass er sich ziemlich dumm angestellt hatte.

»Was hätte ich denn sonst machen sollen?« verteidigte er sich. »Durch das andere Kaff ist ja kaum ein Auto gefahren. Bis mich da jemand mitgenommen hätte ...«

»Und was hast du gemacht, als du wieder am Bahnhof warst?«

»Naja, da stand dann so'n Taxi rum«, antwortete er kleinlaut.

Jetzt konnte ich wirklich nur noch grinsend den Kopf schütteln. Währenddessen griff Thomas in seine Hosentasche und brachte ein paar Münzen zum Vorschein. Er ließ sie geräuschvoll auf den Tisch rollen. Eine davon zog ein paar Kreise bevor sie auf die Seite fiel.

»Wisst ihr, wie schweineteuer das war? Das da ist alles, was noch übrig ist.«

Seine Stimme hörte sich an, als wäre er gerade um die Ersparnisse seines gesamten Lebens gebracht worden. Jetzt konnte ich nicht mehr anders. Ich ließ mich zur Seite fallen, vergrub mein Gesicht in Kevins Bettdecke und lachte still in mich hinein. Irgendwie empfand ich die gesamte Situation nur noch als absurd. War das noch die reale Welt oder war ich irgendwann ohne es zu merken in ein Paralleluniversum abgedriftet? Das alles konnte doch nicht wirklich passiert sein. So was konnte sich doch nur ein völlig durchgeknallter Schriftsteller ausdenken. Als ich mich dann aber wieder aufrichtete, sah alles noch genauso aus wie zuvor. Thomas saß immer noch mit gesenktem Kopf am Tisch und Kevin sah mich grinsend an. Wenigstens er schien das alles inzwischen ziemlich locker zu nehmen.

»Ich kann nicht mehr«, sagte ich zu ihm. »Ich brauch jetzt irgendwas zu trinken. Irgendwas mit Alkohol. Sonst dreh ich wirklich langsam durch. Ruft ihr bei Stefan an. Ich geh runter in die Cafeteria und sag den Mädchen Bescheid, dass Thomas jetzt hier ist.«

Damit ließ ich die beiden alleine im Zimmer zurück. Ich brauchte ziemlich lange, bis ich mir sicher war, wieder in der Realität angekommen zu sein.

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