Winterregen von Robin (alter Titel: Weirdos)

 

Kapitel 1 - Die Ankunft

Wir waren bereits eine gute Stunde unterwegs und hatten ungefähr 100 Kilometer zurückgelegt, als mein Vater durch die Windschutzscheibe auf ein Schild am linken Straßenrand deutete und mir mitteilte, dass wir nun am Ziel wären. Ich war die ganze Zeit über zusammengekauert auf dem Beifahrersitz gesessen und sank nun noch tiefer in das weiche edle Leder ein. Mein Vater setzte den Blinker und brachte seinen dicken BMW zum Stehen, um den Gegenverkehr passieren zu lassen. Ich blicke an seinem Kopf vorbei durch das linke Seitenfenster. Einige Baumreihen säumten den Straßenrand. Das in einiger Entfernung dahinter aufragende weiße Gebäude war durch die dichte Bepflanzung von der Straße aus nur schemenhaft zu erkennen, obwohl die Laubbäume um diese Jahreszeit kahl waren. Als die Autos auf der Gegenfahrbahn endlich an uns vorbei waren, bog mein Vater in die gepflasterte Einfahrt ein und wir erreichten nach einigen Metern einen großzügig angelegten Parkplatz. Zwischen den einzelnen Parkreihen wucherte eine üppige Bepflanzung aus Bäumen und Büschen, die jetzt im Winter allesamt hässlich braun waren. Erst als wir einen Teil der Bäume passiert hatten und näher an das Gebäude herangekommen waren, konnte ich einen genaueren Blick auf das weit ausladende vierstöckige Bauwerk werfen. Ein dreistöckiger Seitenflügel knickte in einem leichten Winkel vom Hauptgebäude ab. Die Balkone vor den Fenstern wiesen darauf hin, dass sich hier wohl vor allem Patientenzimmer befanden.

'Psychosomatische Klinik Bad Neuheim' hatte auf dem Schild am Straßenrand gestanden. Hier war ich also nun. Immer wieder hatte ich mich während der Fahrt gefragt, was nur mit mir geschehen war, dass ich jetzt diesen Klinikaufenthalt nötig hatte. Es war der deprimierendste Dienstag meines Lebens. Mir war zum Heulen zumute, und wenn meine Mutter mitgekommen wäre, hätte ich mich ihr jetzt vielleicht sogar um den Hals geworfen und trotz meines Alters von 19 Jahren hemmungslos losgeschluchzt. So war ich froh, dass ich sie davon überzeugt hatte, daheim zu bleiben. Mein Vater würde ohnehin gleich wieder zurückfahren müssen, da mal wieder in letzter Minute ein wichtiger Geschäftstermin dazwischen gekommen war. Eigentlich hätte ich erst um 14 Uhr in der Klinik sein müssen, aber ein Essen mit einem wichtigen Kunden zwang meinen Vater dazu, mich bereits vormittags um zehn hier abzuliefern. Sein Job als Inhaber einer renommierten Werbeagentur machte es ihm oft schwer, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Ich hatte ihm das bisher nur selten übel genommen, da er ansonsten ein sehr lieber und verständnisvoller Mensch war und mir erst recht seit dem Beginn meiner Probleme unglaublich geholfen hatte. So fand ich mich auch heute klaglos damit ab, vier Stunden früher als geplant meine gewohnte Umgebung verlassen zu müssen. Ich würde hier ohnehin einige Wochen verbringen, auf ein paar Stunden mehr oder weniger kam es also nicht an.

Mein Vater lenkte sein Auto in eine freie Parkbucht nahe am Haupteingang der Klinik und stellte den Motor ab. Er blickte aufmunternd zu mir herüber und klopfte mir auf die Schulter.

»Du wirst schon sehen, wird sicher ganz nett hier«, meinte er.

»Du hast leicht reden, du musst schließlich nicht hier bleiben.«

Wir öffneten die Sicherheitsgurte und stiegen gemächlich aus. Die kalte Januarluft durchdrang sofort mein dünnes Shirt und ließ mich frösteln. An einigen Stellen lagen Schneereste. Schnell öffnete ich die hintere Fahrzeugtüre und holte meine dicke schwarze Daunenjacke vom Rücksitz, während mein Vater von der anderen Seite aus nach seinem Mantel griff. Während ich in meine Jacke schlüpfte, entdeckte ich unter dem Dach vor der großen gläsernen Doppelschwingtüre des Haupteingangs zwei kleine Wägelchen, die wohl zum Transport des Gepäcks auf die Zimmer bestimmt waren.

»Da sind Karren für das Gepäck«, sagte ich. »Ich geh mal eine holen.«

Ich lief die zehn Meter bis zum Eingang hinüber und griff nach einem der Wagen. Bei dieser Gelegenheit warf ich gleich einen ersten Blick durch die großzügige Verglasung der Eingangshalle. Auf der rechten Seite hinter der großen Glastür befand sich eine Art Rezeption, ähnlich wie in einem Hotel. Gegenüber entdeckte ich mehrere Sitzgruppen und Tische mit sauber gestapelten Zeitschriften. Einige vorwiegend ältere Herrschaften saßen sich an einem der Tische gegenüber und schienen sich angeregt zu unterhalten. Mit meinen 19 Jahren kam ich mir hier sofort etwas deplaziert vor und hoffte sehnlichst, dass es hier auch noch andere in meinem Alter gab.

Als ich mit dem Wagen zurück am Auto war, hatte mein Vater bereits den Kofferraum geöffnet und die zwei großen Koffer herausgehoben. Ich hoffte, darin genügend Klamotten für die nächsten Wochen eingepackt zu haben. Ich hievte die Koffer auf die Gepäckkarre. Mein Vater stellte noch einige Taschen und Tüten dazu.

»Soll ich noch mit hinein kommen?« fragte er, nachdem er den Kofferraum wieder zugeschlagen hatte.

»Ach nein, lass nur«, antwortete ich. »Schau lieber, dass du zu deinem Termin nicht zu spät kommst.«

Er lächelte mir wieder aufmunternd zu und reichte mir die Hand. Als wir uns die Hände schüttelten hatte ich Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Er schien dies zu bemerken und nahm mich in die Arme. Eine halbe Minute standen wir da und umarmten uns. Ein paar Tränen liefen mir aus den Augenwinkeln, aber immerhin konnte ich es vermeiden loszuschluchzen. Als er mich wieder losgelassen hatte und die Tränen entdeckte, die mir die Wangen herunterliefen, lächelte er mich an und klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter.

»Du schaffst das hier schon, David. Alles halb so wild.«

Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und lächelte gequält zurück.

»Weiß ich doch«, antwortete ich. »Ist nur 'ne beschissene Situation am Anfang.«

Er drückte mir nochmals die Hand und stieg dann mit einem »Mach's gut, David« zurück in sein Auto. Als er den Wagen aus der Parkbucht steuerte, winkte er mir nochmals lächelnd zu. Ich winkte zurück und sah ihm nach, wie er mit seinem Auto langsam hinter den Bäumen und Büschen verschwand und das Motorengeräusch immer schwächer wurde.

Als das Fahrzeug schließlich ganz aus meinem Blickfeld verschwunden war, atmete ich tief durch, griff nach dem Gepäckwagen und schob ihn langsam vor mir her auf den Eingang zu. Die Tür schwang automatisch nach außen, als ich mich ihr bis auf ein paar Meter genähert hatte. Eine zweite Schwingtüre wenige Meter hinter der ersten verhinderte, dass die kalte Winterluft in die große Eingangshalle dringen konnte. Auch diese Türe öffnete sich automatisch und ließ mich mit meinem Gepäck problemlos passieren. Vor der Theke der Rezeption blieb ich stehen. Eine junge Dame mit schwarzen Haaren und Brille, die an einem Tisch einige Meter hinter der Theke vor einem Bildschirm gesessen hatte, blickte auf und kam freundlich lächelnd auf mich zu.

»Guten Morgen, Sie sind aber früh hier«, begrüßte sie mich.

Ich grüßte zurück und reagierte auf Ihre Bemerkung mit einem hilflosen Schulterzucken.

»Wie heißen Sie?« fragte Sie höflich.

»David Kranitz«, erwiderte ich.

Sie überflog eine Liste und entdeckte nach kurzer Zeit meinen Namen darauf.

»Ah ja, Herr Kranitz. Schön, dass Sie hier sind. Dann darf ich Sie erst einmal recht herzlich hier in der Klinik in Bad Neuheim begrüßen und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

»Hmm, ja, danke«, murmelte ich zurück.

Sie reichte mir einen Schlüssel.

»Das ist Ihr Zimmerschlüssel. Sie haben Zimmer 213, das ist oben im zweiten Stock. Wenn Sie aus dem Aufzug kommen nach rechts, ziemlich weit hinten im Seitenflügel.«

»Okay, werd ich schon finden«, antwortete ich.

»Der Patient, der mit Ihnen das Zimmer teilt, ist noch nicht eingetroffen. Sie können also erst einmal in Ruhe alleine auspacken.«

Anschließend erklärte sie mir noch den weiteren Tagesablauf und gab mir einen Merkzettel mit den entsprechenden Uhrzeiten. Um 15 Uhr war das erste Treffen meiner Therapiegruppe, zwei Stunden später die Begrüßung durch den Chefarzt. Ab 18 Uhr war der Speisesaal für das Abendessen geöffnet. Ein Mittagessen hätte ich auch bekommen können, verzichtete aber gerne darauf. Mir war erst einmal gründlich der Appetit vergangen.

Ich griff nach dem Wagen mit meinem Gepäck und schob ihn zum Aufzug. Seit einiger Zeit machten auch Aufzüge mich nervös. Meine Angst- und Panikattacken hatten zwar nichts mit Aufzügen oder anderen engen Räumen zu tun, aber ich wusste inzwischen, dass dies bei vielen anderen Angstpatienten der Fall war. In den letzten Monaten hatte ich mich intensiv mit Angsterkrankungen beschäftigt und einige Bücher zu diesem Thema gelesen. Viele Situationen, die bei anderen Menschen Panikattacken auslösten, waren mir deshalb bestens bekannt und erinnerten mich jetzt jedes Mal an meine eigenen Probleme.

Ich drückte auf den Fahrstuhlknopf und hörte den Aufzug herunterfahren. Nach wenigen Momenten öffnete sich die Tür und ich schob meinen Wagen hinein. Eine zierliche ältere Dame war in der Zwischenzeit neben mich getreten und betrat hinter mir den Aufzug.

»Aha, Sie sind also einer von den Neuankömmlingen«, sagte sie, als ich den Knopf für den zweiten Stock drückte. Ich schätzte Sie auf Ende 60 oder Anfang 70.

»Ja«, erwiderte ich knapp.

»Wird Ihnen sicher gefallen hier, wenn Sie sich erst einmal eingelebt haben«, fuhr sie fort.

»Naja, da bin ich mir noch nicht so sicher«, gab ich schüchtern zurück.

Sie lachte und sagte: »Ach, als ich hier angekommen bin, ging's mir genauso.«

Wir waren inzwischen im zweiten Stock angekommen und die Fahrstuhltüre öffnete sich.

»Ich muss noch einen Stock höher«, sagte die Frau und trat zur Seite, so dass ich meinen Wagen an ihr vorbei aus dem Aufzug ziehen konnte. Wir nickten uns noch kurz zu, als sich die Türe bereits wieder schloss.

Ich atmete noch einmal tief durch und setzte mein Gepäck wieder in Bewegung. Die Rollen des kleinen Koffertransporters gaben sofort ein widerliches Quietschen von sich.

Vor dem Aufzug befand sich ein größerer Vorraum. Hinter einer der wenigen Türen an der gegenüberliegenden Wand waren Stimmen zu hören. Anscheinend fand hier gerade eine Gruppensitzung statt. Der Vorraum mündete in einen schmalen Gang, der endlos lang zu sein schien. Beim Übergang in den Seitenflügel machte er einen leichten Knick. Hier befand sich auch eine Nische mit einer Sitzecke, die im Moment allerdings verwaist war. Mehrere Fenster ermöglichten den Blick auf den Bereich hinter der Klinik. Ich hielt kurz inne und blickte hinaus. Auf der linken Seite erstreckte sich ein Waldgebiet, auf der rechten Seite lag ein kleiner, zugefrorener See. Einige hundert Meter hinter diesem waren die ersten Häuser von Bad Neuheim zu sehen. Die Klinik lag etwas außerhalb des kleinen Kurortes. Auf dem weitläufigen Areal vor der Klinik spazierten einige Menschen herum, wahrscheinlich Patienten. Die meisten waren dick eingepackt in Wintermäntel, Schals und Mützen. Als ich eine Weile hinausgesehen hatte, hörte ich eine Stimme hinter mir: »Hi, bist du auch einer von den Neuen?«

Erschrocken drehte ich mich um. Vor mir stand eine junge Frau, naja, eher noch ein Mädchen. Man konnte ihr unschwer ansehen, warum sie hier war. Sie bestand fast nur aus Haut und Knochen. Bisher hatte ich noch nie eine Anorexiekranke in natura gesehen. Im ersten Moment verschlug es mir deshalb bei ihrem Anblick die Sprache.

»Hallo! Ja, ich bin gerade angekommen«, erwiderte ich nach einer auffällig langen Pause.

Sie gab mir Ihre Hand.

»Ich bin Nadine«, sagte sie.

»Ich bin David.«

»Schau mal auf deinem Zettel nach, ob wir in derselben Gruppe sind«, forderte sie mich auf. »Ich bin in Gruppe 2C.«

Ich kramte in der Innentasche meiner Daunenjacke nach dem Zettel, den ich an der Rezeption erhalten hatte.

»Ja, ich bin auch in 2C«, erwiderte ich, nachdem ich einen Blick auf das Blatt geworfen hatte.

»Hey, das ist ja toll. Endlich mal ein männliches Wesen mit mir in einer Gruppe.«

»Hast du so was schon öfter mitgemacht?« fragte ich erstaunt.

»Ja, ist glaube ich das vierte Mal, dass ich in so einer Klinik bin. Bin schon seit einer Stunde hier. So lerne ich die Leute gleich alle kennen, wenn sie ankommen. Ist doch toll, oder?«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und lächelte verlegen zurück. Für Nadine schien der Aufenthalt in dieser Klinik beinahe Alltag zu sein, für mich dagegen war es völlig neu und irgendwie beängstigend. Ich fühlte mich jetzt noch mehr verunsichert, als vor der Begegnung mit ihr.

»Du bist das erste mal in so einer Psycho-Klinik, oder?« fragte sie.

Ich nickte nur. Sie grinste mir ins Gesicht.

»Keine Sorge, ist ganz lustig hier«, sagte sie fröhlich.

Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte.

»Naja, ich geh jetzt erst mal auspacken«, brachte ich schließlich heraus und griff nach dem Gepäckwagen.

»Na dann, bis später«, rief sie mir nach und setzte ihren Weg in Richtung Aufzug fort, während ich mein Gepäck weiter in die entgegengesetzte Richtung durch den Gang schob.

Mein Zimmer befand sich auf der linken Seite und war das vorletzte im Gang. Ich schloss die Tür auf und schaute hinein. Das Zimmer sah recht gemütlich aus und glich eher einem Hotelzimmer als einem Krankenhauszimmer. Naja, das hier war schließlich auch eine Kurklinik. Den Boden bedeckte ein schlichter grauer Teppich, die Wände waren weiß gestrichen. Rechts hinter einer Tür befand sich der weiß geflieste Duschraum mit Waschbecken und Toilette. Im Zimmer stand ein Bett vor der Wand zur Dusche, das andere um 90 Grad versetzt an der rechten Seitenwand. Auf der linken Seite befanden sich zwei große Kleiderschränke. Ein Tisch und zwei Stühle komplettierten die Ausstattung. Die gesamte Vorderseite des Zimmers nahm ein großes Fenster und die Tür zum Balkon ein. Ich vermisste einen Fernseher oder zumindest ein Radio, aber beides war auf den Zimmern unerwünscht. Zumindest waren die Räume mit Telefonen ausgestattet.

Ich nahm meine Koffer und Taschen vom Wagen und stellte sie in der Mitte des Zimmers ab. Als mein Blick zurück auf den nun leeren Gepäckwagen fiel, stöhnte ich leise auf. Der musste natürlich wieder zurück an den Klinikeingang. Im Moment hatte ich eigentlich genug von Begegnungen mit Mitpatienten und deren klugen Bemerkungen und wollte mich nur noch in meinem Zimmer verkriechen, zumindest für eine Weile. Der Gedanke, noch einmal bis hinunter zum Eingang und wieder zurück laufen zu müssen, behagte mir gar nicht. Trotzdem blieb mir nichts anderes übrig. Schließlich wollte ich nicht dafür verantwortlich sein, dass andere Neuankömmlinge ihre ganzen Habseligkeiten ohne dieses ohrenzermarternd quietschende Hilfsmittel durch die Gegend schleifen mussten. Ich ließ mein Gepäck also einfach stehen und warf meine Daunenjacke auf eines der Betten. Dann schloss ich das Zimmer wieder ab und schob den Wagen zurück zum Fahrstuhl. Ich war dankbar, dass mir niemand begegnete, zumindest bis ich wieder unten im Eingangsbereich angekommen war. Auf der Sitzecke vor dem Fenster entdeckte ich Nadine, die aufmerksam den Parkplatz beobachtete und nach weiteren Neuankömmlingen Ausschau hielt.

»Na, inzwischen noch jemand angekommen?« fragte ich, als ich den Wagen an ihr vorbei zum Eingang schob.

»Nö, bisher nicht. Die kommen alle erst kurz vor zwei, wetten?« antwortete sie.

Ich brachte den Wagen nach draußen. Als ich zurückkam war sie aufgestanden und wartete direkt vor der inneren Schwingtür auf mich.

»Bleib doch hier unten bei mir. Wir können ein bisschen quatschen und die anderen Neuen beglotzen«, schlug sie vor.

»Ich muss erst mal meine Sachen auspacken.«

»Ach komm, das kannst du später auch noch machen.«

»Ich mach das lieber, solang ich noch allein im Zimmer bin.«

»Na gut«, gab sie schließlich nach.

Als ich mich schon umdrehen und gehen wollte, fragte sie: »Wie alt bist du eigentlich?«

»19«, antwortete ich.

»Ich bin 17, werd' aber nächsten Monat 18. Da können wir dann hier feiern.«

Ihre Fröhlichkeit stand irgendwie im krassen Gegensatz zu Ihrer abgemagerten Erscheinung und verwirrte mich. Ich fühlte mich völlig unsicher ihr gegenüber. Ihr Körper machte einen so schwächlichen und zerbrechlichen Eindruck, trotzdem sprühte sie nur so vor Energie. Ich dagegen hatte einen einigermaßen gut gebauten Körper, war nicht ganz unsportlich und sah auch nicht gerade schlecht aus. Trotzdem fühlte ich mich im Moment wie ein Häufchen Elend.

»Wir sehen uns ja dann später«, sagte ich und winkte ihr zu. Diesmal nahm ich die Treppe. Mit schnellen Schritten erreichte ich wieder das Zimmer, das ich mir bald mit einem anderen Patienten würde teilen müssen. Eigentlich hätte ich auch ein Einzelzimmer haben können und ärgerte mich jetzt etwas darüber, dass ich auf dem Anmeldeformular 'Doppelzimmer' angekreuzt hatte. Damals war mir der Gedanke sehr verlockend erschienen, vielleicht mit einem hübschen Jungen in einem Zimmer zu schlafen. Meine Homosexualität war immer noch ein wohl gehütetes Geheimnis. Eigentlich war ich mir auch immer noch nicht hundertprozentig sicher, ob ich überhaupt schwul war. Dass mich Mädchen nicht interessierten, das wusste ich zwar ganz genau, aber irgendwie war bei mir alles etwas komplizierter. Schon seit meiner Kindheit fand ich Kleidungsstücke mit Kapuzen irgendwie aufregend, obwohl ich keine Erklärung dafür hatte, warum das so war. Irgendwann hatte ich dann herausgefunden, dass man so etwas wohl Fetischismus nannte und ich nicht der einzige Mensch auf diesem Planeten war, der so merkwürdige Gefühle hatte. Diese Erkenntnis half mir allerdings auch nicht unbedingt weiter. Na gut, ich hatte also einen Fetisch für Kapuzenklamotten. Irgendwie kam ich mir damit zwar etwas abnormal vor, aber letztendlich blieb mir ja nichts anderes übrig, als meine merkwürdige Neigung einfach zu akzeptieren. Neben Kapuzensweatshirts mochte ich vor allem Winter- und Regenjacken aus Nylon, deren dünne Kapuzen im Kragen versteckt waren. Der Anblick von gutaussehenden Jungs, die eine Kapuze aufgesetzt hatten, löste bei mir jedes Mal recht heftige Gefühle aus. Auch meine Daunenjacke war aus schwarzem, leicht glänzendem Nylonstoff und hatte eine dünne Kapuze hinter einem Klettverschluss im Kragen. Sie lag immer noch auf dem Bett, auf das ich sie vorhin achtlos geworfen hatte. Jetzt nahm ich sie auf und hängte sie an die Garderobe neben der Zimmertür.

Anschließend machte ich mich lustlos daran, meine Koffer und Taschen auszupacken. Ich öffnete einen der beiden Kleiderschränke und schlichtete nach und nach den Inhalt meiner Koffer in die einzelnen Fächer. Als ich endlich damit fertig war, war es bereits kurz vor zwölf. Ich hoffte, noch etwas Ruhe zu haben, bevor mein Zimmergenosse eintraf. Ich legte mich auf das Bett an der Wand zur Dusche und nahm es damit für mich in Beschlag. Ich versuchte, mich so gut es ging zu entspannen und lauschte den Geräuschen auf dem Gang. Gerade jetzt war dort recht viel los. Anscheinend verließen viele Patienten ihre Zimmer, um sich auf den Weg in den Speisesaal zu machen. Nach einigen Minuten setzte schließlich Stille ein. Jetzt waren wohl alle unten beim Essen.

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