Winterregen von Robin (alter Titel: Weirdos)

 

Kapitel 14 - Neue Gesichter

Am Montag hatte uns dann der Klinikalltag wieder. Thomas hatte den Abschied von Stefan doch noch einigermaßen verkraftet. Die beiden würden sich ja bald wieder sehen. Und miteinander telefonieren konnten sie in der Zwischenzeit auch so oft sie wollten. Irgendjemand würde schon für die Telefongebühren geradestehen. Mein Tag war mit der Angstgruppe, dem autogenen Training und der obligatorischen Gruppentherapie jedenfalls gut ausgefüllt. Danach blieb für Kevin und mich gerade noch Zeit, um zum Einkaufen in den Ort zu laufen. Es wurde langsam Zeit, dass wir begannen, für Nadine ein Geschenk zu suchen. Ihr 18. Geburtstag rückte immer näher.

Am Dienstag hatten wir dann alle wieder einen freien Vormittag. Zwei Wochen waren wir nun hier in der Klinik. Das war aber nicht das einzige besondere an diesem Tag. Heute würden auch wieder neue Patienten ankommen. Diesmal hatte sich Nadine genau informiert. Sie hatte die nette Dame hinter der Rezeption ganz schön nerven müssen, bis diese endlich mit der Sprache herausgerückt war und ihr mitgeteilt hatte, dass heute tatsächlich mal wieder eine Gruppe mit Leuten unseres Alters dabei war. Wir erfuhren sogar, dass diese Gruppe aus sechs Mädels und zwei Jungs bestand. Ich konnte also darauf hoffen, dass auch etwas Schnuckeliges für mich dabei war. Naja, meine Hoffnung, dass sich einer der beiden Neuen vielleicht tatsächlich als mein Traumprinz entpuppen würde, war wohl ziemlich naiv. Das war mir auch klar. Aber Träume durfte man ja wohl noch haben, oder? Die Wahrscheinlichkeit, dass auch nur einer der beiden schwul war, war ohnehin denkbar gering. Schließlich war die Schwulenquote unter den jungen männlichen Patienten bereits weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Es wäre schon ein gigantischer Zufall, wenn da jetzt noch einer dazu käme. Und ob der dann wirklich Interesse an mir hätte?

Gespannt auf die Neuen waren wir aber alle. Wir fragten uns, wie die wohl aussahen und warum sie hier waren. Außerdem konnten wir denen dann erst einmal von unseren eigenen Erfahrungen in der Klinik berichten und alle möglichen klugen Ratschläge geben.

Also verbrachten wir den ganzen Vormittag gemeinsam in der Eingangshalle. Und da mussten wir zuerst einmal eine ganze Weile warten. Nadine hatte wohl Recht mit dem, was sie mir bereits an unserem eigenen Anreisetag mitgeteilt hatte. Die meisten neuen Patienten kamen nicht früher, als unbedingt nötig. Das bedeutete, dass viele erst gegen 14 Uhr eintrudeln würden. Aber was hatten wir schon besseres zu tun? Wir verpassten ja nichts, wenn wir hier untätig in der Halle herumhockten.

Kurz vor elf war es dann soweit. Der VW-Bus brachte die ersten Neuankömmlinge. Tatsächlich waren darunter zwei recht junge Mädchen, beide so um die 18 Jahre alt. Eine davon sah ganz gut aus. Das fand zumindest Kevin. Ich konnte ihm da auch nicht widersprechen. Mir wäre aber ein süßer Junge lieber gewesen.

Die neuen wurden an der Rezeption mit der üblichen Prozedur abgefertigt. Ohne groß Notiz von uns zu nehmen, verschwanden sie mit ihren Koffern und Taschen im Fahrstuhl.

Dann wurde es wieder eine Weile ruhig. Erst gegen halb zwölf wurde es auf dem Parkplatz etwas lebendiger. Nach und nach trafen jetzt neue Patienten ein. Naja, hauptsächlich waren es Patientinnen. Die Frauenquote in solchen Kliniken war eben im Allgemeinen recht hoch. Deshalb war das auch keine Überraschung für uns. Einige kamen mit dem eigenen Auto, die meisten wurden von Angehörigen gebracht. Allerdings war zunächst einmal niemand mehr dabei, den ich unserer Altersklasse zuordnen konnte. Die meisten waren wohl Mitte 20 bis Ende 30.

Kurz nach dem Mittagessen bog dann ein kleiner, alter Peugeot in eine nahe gelegene Parklücke ein. Ein junger Mann stieg aus und blickte sich etwas unsicher um. Ich schätzte ihn auf Anfang 20. Er war wohl knapp zwei Meter groß und hatte bereits eine leichte Stirnglatze. Falls dies einer der beiden potentiellen Traumprinzen für mich sein sollte, dann konnte ich ihn als Kandidaten bereits abhaken. Der hier verursachte bei mir leider kein Herzklopfen.

»Gehen wir mal raus und bringen ihm 'nen Wagen für's Gepäck?« schlug Nadine vor. »Der sieht so verloren aus.«

»Hmm, ob ihm das so recht ist, wenn wir ihn alle einfach so überfallen?« erwiderte ich. »Also mir würde das glaub ich nicht so gefallen.«

Wenn der Typ richtig schnuckelig gewesen wäre, hätte mich natürlich nichts zurückgehalten und ich wäre nur zu bereitwillig Nadines Vorschlag gefolgt. So erinnerte ich mich aber an meine eigenen Gefühle, die ich gehabt hatte, als ich hier angekommen war. Und da war mir Nadines etwas aufdringliche Art überhaupt nicht recht gewesen.

»Ich bring dem jetzt mal 'nen Wagen.«

Nadine schien sich durch mich von ihrem Vorhaben nicht abbringen zu lassen. So lief sie halt alleine nach draußen, schnappte sich eine der Gepäckkarren und schob diese zu dem Kleinwagen hinüber. Wir beobachteten sie, wie sie dem Neuankömmling die Hand schüttelte und ihm dann half, sein Gepäck auszuladen.

Nach ein paar Minuten betrat sie mit ihm dann die Klinik. Während der junge Mann an der Rezeption von der Klinikangestellten begrüßt wurde, teilte uns Nadine leise mit, dass er Armin hieß, 22 Jahre alt war und Physik studierte. Nachdem er seinen Zimmerschlüssel und die anderen Unterlagen erhalten hatte, winkte sie ihn zu uns herüber. Dann stellte sie uns der Reihe nach vor.

»Wie lange seid ihr schon hier?« wollte Armin wissen.

»Zwei Wochen«, antwortete Gudrun.

»Und? Wie isses hier so?«

»Ach, ganz okay. Man gewöhnt sich schnell dran.«

»Kannst du mal nachsehen, in welcher Gruppe du bist?« bat ich ihn neugierig.

»Wo seh ich das?« fragte er zurück.

»Steht irgendwo auf dem Zettel, den du gerade bekommen hast.«

»Gruppe 2A steht hier«, antwortete er, nachdem er das Blatt kurz überflogen hatte.

Gruppe 2A, das war tatsächlich die Gruppe mit den ganz jungen Patienten. Damit war Kandidat eins nun tatsächlich aus dem Rennen ausgeschieden. Blieb nur noch ein potentieller Traumprinz für mich übrig.

»Warum willst du das wissen?« fragte er mich.

»Ach, nur so«, wich ich aus.

»Sind sonst schon Leute aus meiner Gruppe da? Wisst ihr das?«

»Zwei junge Mädchen sind schon angekommen«, sprang Nadine ein. »Die müssten eigentlich auch in deiner Gruppe sein.«

»Eine davon sieht ganz gut aus«, meinte Kevin verschmitzt.

»Echt?«

Armin grinste erwartungsvoll zurück. Schwul schien er also sowieso nicht zu sein.

Dann verabschiedete er sich von uns und verschwand im Fahrstuhl.

Ich war etwas enttäuscht. Meine Hoffnungen schienen sich nicht zu erfüllen. Nur noch mit verhaltenem Interesse verfolgte ich, wie weitere Neuankömmlinge dem Klinikbus oder ihren eigenen Autos entstiegen.

Um 13.30 Uhr musste ich schließlich zum autogenen Training. Das war mir ganz recht, denn inzwischen war ich ziemlich frustriert. Etwas Entspannung würde mir also ganz gut tun. Ich lief mit Christina und Gudrun nach oben zum Gruppenraum in den zweiten Stock. Die anderen drei blieben noch eine Weile unten in der Halle.

Mich zu entspannen war diesmal nicht ganz einfach und die Dreiviertelstunde zog sich ziemlich in die Länge. Als ich danach zurück ins Zimmer laufen wollte, versperrte eine noch gut beladene Gepäckkarre den Gang. Notgedrungen blieb ich stehen. Eine Frau, die ich auf Mitte 30 schätzte, stand daneben und blickte durch eine geöffnete Türe in eines der Einzelzimmer auf der rechten Seite des Ganges. Im ersten Moment dachte ich, dass das ihr Zimmer wäre, doch dann erblickte ich einen Jungen, dessen Anblick mein Herz einen Sprung machen ließ. Er kam gerade aus dem Zimmer, um einen der Koffer vom Gepäckwagen zu nehmen. Er war ungefähr in meinem Alter, in etwa so groß wie ich, hatte schwarze, strubbelige Haare und ein ziemlich süßes Gesicht. Richtig aufregend fand ich den Strickpullover, den er anhatte. Der hatte nämlich eine Kapuze.

Kaum hatte ich einen kurzen Blick auf ihn werfen können, verschwand er auch schon wieder mit dem Koffer in seinem Zimmer.

»Ich hab dann alles«, hörte ich ihn rufen.

Dann durfte ich noch einmal kurz seinen Anblick genießen, als er die Türe schloss.

Mein Herz pochte wild. Dann holte mich die Frau, die immer noch neben mir stand, aus meinen Träumen.

»Könnten Sie mal kurz Platz machen?« bat sie mich. »Ich muss nämlich wieder zurück.«

»Ja, klar.«

Ich quetschte mich dicht an die Wand, so dass sie mit dem Wagen an mir vorbeikam.

»Mein Zimmer ist nämlich im ersten Stock. Der junge Mann hier hatte nur dummerweise sein Gepäck ganz oben auf dem Wagen. Deswegen musste ich mit ihm hoch kommen.«

»Ach so.«

»Dass die da auch nur so wenige von diesen komischen Gepäckwagen haben. Wenn mit diesem Kleinbus da gleich sechs oder sieben Leute auf einmal ankommen, dann können die doch gar nicht ausreichen. Das müssten die Leute von der Klinik doch eigentlich wissen. Warum schaffen die nicht einfach noch ein paar von diesen Wägelchen an. So teuer können die doch nicht sein.«

Sie schien einer dieser Menschen zu sein, die einem pausenlos die Ohren vollplappern konnten, ohne dass man selbst auch nur einen Ton zu sagen brauchte. Ich nahm kaum wahr, was sie so alles von sich gab, während sie den Wagen langsam zurück zum Aufzug bugsierte. Stattdessen starrte ich wie gebannt auf die Zimmertüre, hinter der dieser Junge verschwunden war. Mindestens eine Minute blieb ich so stehen und hoffte darauf, dass er wieder herauskommen würde. Dann kam ich mir doch etwas blöd dabei vor. Was hätte ich auch zu ihm sagen sollen, falls er wirklich die Türe öffnete und mich hier stehen sah? Zwei andere Patienten, die gerade den Gang entlang kamen, sahen mich auch ganz komisch an. Oder bildete ich mir das nur ein?

Ich prägte mir genau die Zimmernummer dieses Boys ein. 228. Dann lief ich langsam den Gang entlang zurück zu meinem Zimmer. Noch ein oder zwei Mal blickte ich zurück. Vielleicht kam er ja doch wieder heraus?

Im Zimmer angekommen ließ ich mich seufzend auf meine Matratze fallen. Kevin lag auf seinem Bett und las. Er legte sein Buch zur Seite und sah zu mir herüber.

»Is was?« wollte er wissen.

»Hier ist grad so'n junger Typ angekommen. Mann, der ist richtig süß!«

Kevin grinste mich an.

»Jetzt dreh aber nicht gleich durch, ja? Du weißt ja noch nicht mal, ob der überhaupt schwul ist.«

»Ja, das ist mir schon klar, dass der wahrscheinlich nicht schwul ist. Süß isser aber trotzdem.«

Später vor der Gruppensitzung sah ich den Jungen dann wieder, wenn auch nur ganz kurz. Das erste Treffen seiner eigenen Gruppe fand im Nachbarraum statt. Ich stand noch im Vorraum vor dem Fahrstuhl und er huschte schnell an mir vorbei, als er aus seinem Zimmer kam. Sofort war er im Gruppenraum verschwunden, wo bereits einige andere Mitglieder seiner Gruppe warteten. Natürlich hätte ich jetzt durch die geöffnete Türe hineinsehen und ihn dabei beobachten können, wie er sich dort mit den anderen bekannt machte. So neugierig wollte ich dann aber doch nicht sein. Ich würde ihn ja jetzt häufiger sehen.

Das nächste Mal war dies beim Abendessen der Fall. Die Begrüßung durch den Chefarzt dauerte heute anscheinend noch länger als bei uns vor zwei Wochen. Erst kurz nach 18.30 Uhr kamen die Neuen in den Speisesaal geströmt. Zu meinem Pech lag der Tisch dieses süßen Jungen dann auch noch ganz hinten am anderen Ende des Speisesaals. Eine Säule versperrte mir ausgerechnet die Sicht auf seinen Platz. So konnte ich auch jetzt wieder nur einen kurzen Blick auf ihn werfen, als er mit den anderen Mitgliedern seiner Gruppe den Speisesaal betrat und dabei direkt an unserem Tisch vorbeiging. Kurz darauf bediente er sich dann am Büffet. In dem Getümmel wurde er aber meistens von anderen verdeckt und sein Kopf tauchte nur ab und zu für wenige Augenblicke aus der Menge auf.

Als wir selbst mit dem Essen fertig waren, machte Nadine einen Vorschlag, der mich sofort begeisterte.

»Wollen wir die Neuen für heute Abend einladen? Wir könnten uns ja zusammensetzen. Entweder in der Cafeteria oder oben auf dem Dach, da ist's ruhig. Wär doch schön, wenn wir die mal näher kennen lernen würden, oder?«

»Ja, das wäre toll«, antwortete ich. »Wer geht sie fragen?«

»Das kann ich ja machen«, meinte Gudrun. »Kommt noch einer von euch Jungs mit?«

»Ja, ich geh mit.«

Ich durchquerte mit Gudrun den Speisesaal. Wir blieben mit einem freundlichen Lächeln vor den anderen stehen. Der süße Junge saß neben Armin auf einem der Stühle direkt am Gang und wandte mir deshalb den Rücken zu. Wenn ich ihm schon nicht ins Gesicht sehen konnte, stellte ich mich wenigstens ganz dicht hinter ihn. Ich hätte meine Hand nur ein paar Zentimeter ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Mein Blick fiel sofort auf seine strubbeligen schwarzen Haare und auf die Kapuze seines Pullis. Er war gerade dabei, sich den Rest eines Wurstbrotes in den Mund zu schieben. Vielleicht hätten wir mit unserer Aktion doch besser warten sollen, bis alle mit dem Essen fertig waren. Irgendwie fand ich das ein wenig unhöflich, was wir da gerade machten.

Auch die sechs Mädchen, die auf den anderen Seiten des Tisches saßen, waren noch mit dem Verzehr von Broten und Salaten beschäftigt. Naja, einige von denen waren eher junge Frauen. Der Altersdurchschnitt in dieser Gruppe schien etwas höher zu sein als bei uns. Neben Armin schätzte ich auch drei der weiblichen Gruppenmitglieder auf über 20.

»Hallo, wir wollten mal fragen, ob ihr euch nachher vielleicht zu uns setzen wollt«, fragte Gudrun dann endlich in die Runde.

»Wir sind schon zwei Wochen hier, vielleicht wollt ihr ja ein paar Sachen von uns wissen«, fügte ich hinzu. »Aber wir können auch einfach nur so gemütlich zusammensitzen.«

Als erste Reaktion ernteten wir einiges Schulterzucken.

»Also ich muss jetzt erst noch meine Koffer auspacken«, antwortete eine der jungen Frauen nach einer Weile.

»Ich komm mit hoch. Ich bin auch noch nicht damit fertig.«

Das war wohl ihre Zimmergenossin.

Die anderen schienen unschlüssig zu sein. Ich hörte irgendwas von 'lange Fahrt', 'müde' und 'früh ins Bett'. Die acht schienen kein besonders unternehmungslustiger Haufen zu sein. Naja, die waren ja auch alle nicht ohne Grund hier. Einigen war vielleicht einfach nicht nach Gesellschaft zumute. Zumindest nicht gleich am ersten Abend.

»Naja, ihr könnt euch das ja noch überlegen. Wir warten draußen in der Halle.«

Gudrun und ich kehrten etwas frustriert zu unserem Tisch zurück. Ich war ganz besonders enttäuscht über die Zurückhaltung einer ganz bestimmten Person. Von diesem niedlichen Jungen hatte ich überhaupt keine Reaktion bemerkt. Hatte er mich überhaupt wahrgenommen? Er hatte sich nur einmal ganz kurz umgedreht.

»Tja, aus dem gemütlichen Abend wird wohl nichts«, sagte ich zu den anderen, als ich wieder an unserem eigenen Tisch Platz nahm. »Ein paar haben noch nicht ausgepackt, ein paar wollen früh ins Bett. Ich hab so das Gefühl, die passen nicht so gut zusammen wie wir. Ist irgendwie ziemlich ruhig da drüben am Tisch.«

»Vielleicht kommen sie ja doch noch«, meinte Gudrun. »Zumindest ein paar von ihnen.«

Nach einer Weile standen wir auf und gingen hinaus in die Halle, wo wir erst einmal eine Sitzgruppe in Beschlag nahmen. Es dauerte etwa fünf Minuten, bis die beiden jungen Damen, die noch ihre Koffer auspacken wollten, aus dem Speisesaal kamen. Sie würdigten uns keines Blickes und verschwanden sofort im Treppenhaus.

Dann liefen auch die restlichen Mitglieder der anderen Gruppe nach und nach an uns vorbei. Naja, von denen kam dann doch das eine oder andere Lächeln oder zumindest ein entschuldigender Blick. Hey, und dieser süße Boy lächelte mich tatsächlich schüchtern an. Oder bildete ich mir das nur ein? Wahrscheinlich lächelte er ja wirklich nur uns allen zu. Dann verschwand er auch schon im Fahrstuhl.

Als letzter kam Armin aus dem Speisesaal. Zumindest er kam zu uns herüber. Er kannte uns ja auch schon etwas besser als die anderen.

»Schade, dass die anderen alle keine Lust haben«, meinte er. »Ich glaub, manche trauen sich einfach nicht. Die wollen wohl gar nicht so genau von euch erfahren, was hier so alles auf sie zukommt.«

»Hey, es ist doch ganz nett hier, was haben die denn nur?« meinte Nadine. »Willst wenigstens du 'ne Weile bei uns hier bleiben?«

»Ich weiß nicht so recht. Ihr habt jetzt sicher schon was anderes vor, oder? Ich will euch wirklich nicht stören.«

»Unsinn, du störst nicht! Bleib ruhig hier. Du kannst ja immer noch aufs Zimmer gehen, wenn's dir bei uns nicht gefällt. Wie nehmen dir das dann schon nicht übel.«

Ich wollte unbedingt, dass Armin hier blieb. Vielleicht erfuhr ich durch ihn ja schon etwas mehr über den anderen Jungen.

»Na gut«, willigte er schließlich ein und setzte sich zu uns.

Dann fragte er erst einmal uns aus. Wie denn die Therapeuten so wären und die Ärzte. Ob das Essen gut wäre und all so was. Ich kam überhaupt nicht dazu, ihm selbst irgendwelche Fragen zu stellen. Ich hätte wohl ohnehin nicht gewusst, wie ich ihn auf den anderen Jungen hätte ansprechen sollen. Schließlich konnte ich nicht einfach sagen, dass ich den ziemlich süß fand und unbedingt mehr über ihn wissen wollte. Wahrscheinlich wusste Armin ja selbst noch nicht viel über ihn.

Später erzählte er dann doch noch ein wenig von sich aus von den anderen Mitgliedern seiner Gruppe. Die erste Zusammenkunft mit dem Psychologen war wohl ziemlich unergiebig gewesen. Keiner hatte viel über sich erzählt. Armin hatte den Eindruck, dass die Problematiken der einzelnen Gruppenmitglieder nicht besonders miteinander harmonierten. Die acht würden wohl auf jeden Fall noch eine Weile brauchen, um miteinander klar zu kommen.

Von dem anderen Jungen wusste Armin eigentlich nur, dass er Daniel hieß und 18 oder 19 war. An das genaue Alter konnte er sich inzwischen schon nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich interessierte Armin sich eben mehr für die Mädchen in der Gruppe.

Daniel hieß dieser Junge also. Daniel und David. Unsere Vornamen würden schon mal ganz gut zusammenpassen.

Armin verabschiedete sich dann doch recht bald wieder und ließ uns alleine in der Halle zurück. Wir holten uns wieder irgendein Spiel von der Rezeption. Ich war den Rest des Abends aber nicht so recht bei der Sache.

Als ich später in meinem Bett lag, konnte ich nicht einschlafen. Die ganze Zeit über musste ich an diesen Daniel denken. Ich fragte mich, was er jetzt wohl gerade machte. Ob er vielleicht schon schlief? Oder konnte er nicht schlafen in seiner ersten Nacht hier in der Klinik? Was dachte er wohl gerade? Wie fühlte er sich? Fühlte er sich vielleicht einsam und alleine in seinem Einzelzimmer? Ich fragte mich, warum er hier war. Was war der Grund für seinen Aufenthalt in der Klinik? Ich hätte so gerne mehr über ihn erfahren.

Noch nicht einmal sein Gesicht hatte ich mir richtig einprägen können. Ich hatte ihn ja nur ein paar kurze Augenblicke lang gesehen. Nur mit Mühe konnte ich mir jetzt noch seine Gesichtszüge in Erinnerung rufen. Wie hatten noch mal seine Augen ausgesehen? Welche Form hatte seine Nase gehabt? Und sein Mund? Ich wusste eigentlich nur noch, dass ich ihn wahnsinnig niedlich gefunden hatte. Aber vielleicht hatte das ja nur daran gelegen, dass es hier so wenig andere süße Jungs gab? Vielleicht sah er ja doch nicht so umwerfend aus, wie ich im ersten Moment geglaubt hatte? Möglicherweise gefiel er mir morgen schon gar nicht mehr so gut. Oder war es sogar nur dieser Kapuzenpulli gewesen, der mich an ihm so fasziniert hatte?

Trotzdem wünschte ich mir im Moment nichts sehnlicher als bei ihm zu sein und ganz dicht neben ihm zu liegen. Körper an Körper. Ich wollte ihn in meinen Armen halten, ihn ganz sanft streicheln und seinen Körper unter diesem flauschigen Pulli spüren. Und ich wollte ihm diese Kapuze über den Kopf ziehen und ihm dann ganz lange ins Gesicht sehen.

Oh Mann, ich musste schnell wieder aufhören, an solche Sachen zu denken. Sicher würde nichts von alledem jemals passieren. Ich wusste doch, wie unwahrscheinlich es war, dass Daniel tatsächlich schwul und dazu auch noch an mir interessiert war. Vielleicht hatte er ja sogar eine Freundin, die zu Hause auf ihn wartete und an die er jetzt dachte.

Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf, während ich mich so im Bett herumwälzte. An Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Immer wieder sah ich auf den Wecker. Die Zeiger schienen sich kaum zu bewegen. Die Nacht würde überhaupt kein Ende nehmen, wenn ich nicht bald einschlafen konnte.

Ich überlegte, wie ich am nächsten Tag mit Daniel ins Gespräch kommen konnte. Würde sich dazu überhaupt eine Gelegenheit ergeben? Was sollte ich zu ihm sagen? Wann würde ich ihn das nächste Mal sehen? Schon beim Frühstück? Oder erst beim Mittagessen? Vielleicht traf ich ihn ja auch zufällig auf dem Gang oder in der Halle.

Nachdem ich mich stundenlang mit diesen und vielen anderen Fragen herumgequält hatte, war ich schließlich doch noch irgendwann eingeschlafen, voller Erwartung auf den nächsten Tag.

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